Hannah Arendt (1906-1975) war eine jüdische deutsch-US-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin. Sie führte den Begriff von der Herrschaft des Niemand ein. Auch in der heutigen, demokratisch verfassten Massengesellschaft, in der jeder austauschbar erscheint, ist das blinde Befolgen von Vorschriften oder Anweisungen von Vorgesetzten, von angeblichen Sachzwängen, weiterhin ein Problem. Arendt spricht vom Problem der Büro-kratie (kratos, griech., Herrschaft), also der (anonymen) Herrschaft des Büros, in dem sich der denkende und persönlich Verantwortung übernehmende Mitarbeiter auf „Sachzwänge“ beruft und als Person (per sonare, lat., hindurch-klingen – ursprünglich durch die Maske im griechischen Theater hindurchklingend) abtaucht.
Im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 beobachtete sie, wie Adolph Eichmann als Referatsleiter für „Judenangelegenheiten“ in Berlin ab 1940 mit der Planung und Durchführung der Transporte von Juden in die Konzentrationslager befasst, sich immer wieder darauf berief, nur Befehle ausgeführt zu haben, dass er selbst niemanden umgebracht habe. Arend beschrieb das später in ihrem Buch „Die Banalität des Bösen„ als eine gefährliche Indifferenz und Spaltung in ein öffentliches und ein privates Gewissen. Arendt schreibt, in dieser Spaltung zwischen öffentlichem und privatem Ich, „liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität“.
Sie betont, dass wir selber denken müssen, dass wir keiner Ideologie, keiner Behörde, keinem Wissenschaftler, Politiker, General oder Chef blind folgen dürfen. Insbesondere in Deutschland sei die „Tugend des Gehorchens“ hochgehängt und der autoritäre Charakter, wie ihn Wilhelm Reich, Erich Fromm oder Theodor Adorno beschrieben, noch immer weit verbreitet.
Arendt schreibt: „Kinder gehorchen.“ Das ist in Gefahrensituationen auch sinnvoll. Doch spätestens ab der Pubertät müsse man sich doch eigene Gedanken machen und sich selbst eine persönliche Verantwortung zubilligen.
Das große Unrecht (da bezieht sie sich auf die Zeit des Nationalsozialismus) geschieht von Menschen, die sich weigern Person zu sein; sich also als jemand darstellen, der sich von persönlicher Verantwortung freispricht, da angeblich nur Anweisungen oder Befehlen von Autoritäten gefolgt wurde.
Schmerzlich haben wir während der Corona-Pandemie erlebt, wie die folgsamen und widerständigen Geister oft unversöhnlich, statt dialektisch sich auseinandersetzend, gegenüberstanden, nur einseitige Positionen gelten lassen wollten.
Schmerzlich erleben wir es im Alltag, wenn z.B. Behörden – hier die untere Naturschutzbehörde – sinnvolle Projekte hinauszögern; wenn eigentlich mal als sinnvoll gestaltete Vorschriften Prozesse verkomplizieren und sich die gute Idee von Struktur und Normierungen in ihr Gegenteil wandelt. Denn während wir Menschen Ordnung lieben und viel Energie zur deren Schaffung und Aufrechterhaltung aufwenden, ist die Welt eben doch komplex, größer, veränderlich, vielfältig wechselwirkend und nicht kalkulierbar.
Ergo braucht es immer wieder situative Antworten, die jemand verantwortet, weil generelle Richtlinien lediglich einen Orientierungsrahmen hergeben. Sonst entsteht aus der Absicht, Willkür zu vermeiden, unvermeidlich Willkür.
Um justiziabel keiner Schuld überführt zu werden, zieht sich der in einer Behörde beschäftigte Bürokrat hinter seine angeblichen Sachzwänge zurück, spaltet sich und sein Handeln in eine öffentliche und eine private Auffassung. Denn vor Gericht wird nach Gesetzeslage, also nach überdauerndem Text, nicht nach lebendiger, sich verändernder Sachlage, Sinn und Notwendigkeit entschieden. In Biebertal stehen uns die leuchtenden Beispiele solcher Politik täglich vor Augen.
Um nur ein Beispiel herauszugreifen, ist von dem ursprünglich für Ende 2025 / Anfang 2026 zur Fertigstellung geplanten neuen Ärztehaus in Rodheim, über das ich am 1. Juli in unseren Nachrichten berichtete, bislang nichts, außer Messpunkten, zu sehen.
Inzwischen sind es nicht nur die Feldlerchen, sondern auch ein nur in Hessen als gefährdet eingestufter Ackerhahnenfuß (Beitragsbild), der das Projekt aufhält. Die Vorgaben der unteren Naturschutzbehörde werden nun die Herstellung der Baureife des Geländes weiter verzögern.
Die Hausarztpraxis Biebertal versorgt etwa die Hälfte der Biebertaler Bevölkerung ärztlich und ist bemüht, ihre Versorgung endlich barrierefrei anzubieten. Aber nichts geht voran. Es herrscht eben Büro-kratie; die gleiche Bürokratie die z.B. an Bushaltestellen kostenaufwendig behindertengerechte Bordsteinanpassungen vorschreibt und darauf beharrt, dass der Boden auf der gesamten Fläche des zukünftigen Baugrundstückes in 20 cm Höhe abgetragen wird, um die andernorts als Unkraut wuchernden Pflanzen zu retten; oder darauf besteht, dass die Rodheimer Feldlerchen nun in ihre Umsiedelungsflächen in Krumbach umziehen und dort brüten.
Manchmal, denke ich: Wir sind nicht in Biebertal, sondern in Schilda.
Letzte, vielleicht wichtige Anmerkung: Es handelt sich bei diesem Beitrag um die Privatmeinung von mir als Biebertaler Bürger. Was die mit dem Bau Beteiligten, u.a. meine Frau und meine Kollegen aus Bieber, dazu als Meinung vertreten, das sollen sie selbst kundtun. Ich habe nicht nachgefragt, ob sie meine Meinung derart teilen oder diese Veröffentlichung für gut heißen.
Da ich mich, als ich vor ein paar Jahren politisch aktiv wurde, um mehr Transparenz bemühen wollte, sehe ich es als wichtig an, die Biebertaler zu informieren, denn gerade auf diesem Gebiet erlebe ich erhebliche Schwächen in unserem Gemeinwesen.